Igor Fjodorowitsch Strawinsky (auch Stravinsky oder Strawinski)
* 5. Juni (jul.)/ 17. Juni 1882 (greg.) in Oranienbaum, Russland
† 6. April 1971 in New York City
Igor Strawinsky
1882–1971
Pulcinella-Suite
[revidierte Fassung 1949]
daraus:
1. Sinfonia (Ouvertüre)
5. Toccata
6. Gavotte
7. Vivo
8. 6. 2008 ► Konzert Nr. 14
In Auseinandersetzung mit Igor Stravinskijs Biografie erkennt man in ihm den Weltenbürger, den ewig suchenden, für Anregungen und Einflüsse offenen und sich doch nie verbiegenden Menschen und Komponisten. In Russland geboren, lebte er in der Schweiz, Frankreich und schließlich in Amerika.
Als Ganzes gesehen, reicht sein Werk von russisch eingefärbtem Realismus bis zu entstofflichter Vergeistigung, von Witz und Spott bis zu konzessionsloser Religiosität, von parodierender Jahrmarktsmusik bis zu starren Kirchenklängen, von angeborenem Russentum bis zu denkerisch vorangetriebener westlicher Ästhetik – mit allen nur vorstellbaren Zwischenstufen.
Die in den Jahren 1919/1920 komponierte Musik zum Ballett »Pulcinella« (die Orchestersuite daraus wurde 1922 geschrieben) entstand auf Anregung von Diaghilew, dem Direktor der berühmten »Ballets Russes« in Paris und Monte Carlo und zwar, wie Stravinskij sich erinnerte, „an einem Frühlingsnachmittag, als wir zusammen auf der Place de la Concorde spazieren gingen. ,Protestiere nicht gleich gegen das, was ich zu sagen habe. … Ich möchte nämlich, dass du dir eine wirklich reizvolle Musik des achtzehnten Jahrhunderts ansiehst, um sie für ein Ballett zu orchestrieren.‘ Als er weiter ausführte, dass der von ihm ausgewählte Komponist Pergolesi sei, dachte ich, er sei verrückt geworden. Ich kannte Pergolesi nur durch sein Stabat mater und seine Serva Padrona, und Diaghilew wusste sehr genau, dass mich dies in keiner Weise reizte. Trotzdem versprach ich ihm, einen Blick darauf zu werfen und mich dann zu äußern. Ich sah mir’s an – und verliebte mich sofort. Meine endgültige Auswahl der Stücke ging nur noch zu einem Teil auf Diaghilews Vorschläge zurück und stammte zum anderen aus veröffentlichten Ausgaben. So habe ich den ganzen mir erreichbaren Pergolesi durchspielen können, bevor ich meine Auswahl traf.“
Die Musikwissenschaft hat inzwischen herausgefunden, dass die von Stravinskij genutzten Werke zwar sämtlich Pergolesis Namen trugen, dass aber nur 10 der insgesamt 21 verwendeten Musikstücke tatsächlich aus Pergolesis Feder stammten. Vier weitere Komponisten des 18. Jahrhunderts lieferten die Vorlagen; allen voran Domenico Gallo mit sieben Triosonaten.
Bei Igor Stravinskijs Pulcinella-Suite handelt es sich um seine Bearbeitung eines „Balletts mit Gesang auf ein Libretto der Commedia dell’arte“. Diese hatte Stravinskij schon seit langem fasziniert. Bereits 1917 war er mit Pablo Picasso nach Neapel gereist.
Stravinskij erinnerte sich später:
„Wir waren beide tief beeindruckt von der Commedia dell’arte, die wir in einem überfüllten, von Knoblauch dampfenden kleinen Raum sahen. Der Pulcinella war ein großer betrunkener Tölpel, und jede seiner Bewegungen, wahrscheinlich auch jedes Wort, wenn ich es verstanden hätte, war obszön.“
Über den Kompositionsprozess selbst schreibt Stravinskij:
„Pulcinella war der Schwanengesang meiner Schweizer Jahre. Es wurde in einem kleinen Mansardenzimmer in der Maison Bornand in Morges komponiert, einem Raum, der mit einem Hackbrett, einem Klavier, einem Harmonium und einer Reihe von Schlaginstrumenten vollgestopft war. Ich fing an, direkt in den Pergolesi-Notenmanuskripten zu komponieren, ganz so, als ob ich eine meiner alten Arbeiten durchkorrigieren würde. Ich machte mich ohne irgendwelche vorgefasste Meinungen oder ästhetische Richtlinien an die Arbeit und hätte nichts über das Resultat vorhersagen können. Ich wusste, dass ich keine Pergolesi-Fälschung hervorbringen konnte, denn dazu sind meine Beweggründe viel zu verschieden von den seinen; das Beste, was ich erhoffen konnte, war, ihn mit meinem eigenen Akzent sprechen zu lassen. Dass das Resultat in gewissem Sinne zu einer Satire wurde, war wahrscheinlich unvermeidlich – wer hätte 1919 dieses Material anders als satirisch behandeln können? –, aber selbst diese Beobachtung ist nur eine späte Einsicht. Ich hatte nicht die Absicht, eine Satire zu komponieren, und Diaghilew hatte natürlich eine solche Möglichkeit überhaupt nicht erwogen. Eine stilgemäße Orchestrierung und nichts anderes war es, was Diaghilew wollte. Meine Musik schockierte ihn so, dass er für längere Zeit mit einem Gesicht herumlief, als ob er das beleidigte 18. Jahrhundert selbst wäre. Das Bemerkenswerte an Pulcinella ist jedoch nicht, wie viel, sondern wie wenig hinzugefügt und geändert wurde.“
Die einleitende Sinfonia lebt vom farbigen Wechsel zwischen dem Orchestertutti und einzeln hervorgestellten Instrumentengruppen (Solostreicher, Holzbläser, Hörner), während sich in der Toccata (Nr. 5) insbesondere die Blechbläser nachdrücklich zu Wort melden. Die anschließende Gavotte mit ihren beiden charmanten Variationen ist ganz den Blasinstrumenten vorbehalten, während im 7. Satz, „Vivo“, Posaune und Solokontrabass miteinander wetteifern. Diese bizarre Kombination ist eine gute Illustration Stravinskijschen Humors, und über diesen kurzen Satz schreibt der Komponist im Vorwort zu seinem »Apollon Musagète«: „Nur wenige Hörer haben den wirklichen Witz des Pulcinella-Duetts mitbekommen, der darin besteht, dass die Posaune eine sehr laute Stimme hat und der Streichbass beinahe überhaupt keine.“
Das Werk kostete Stravinskij einige Freunde und versöhnte manchen Feind. Bei den Hütern des Musik-Erbes aber sorgte es für Verwirrung. Stravinskij galt seinerzeit als Bürgerschreck, der die Fundamente der Musiktradition in Frage zu stellen schien. Zur Verwunderung der Musikwelt kehrte der skandalumwitterte Avantgardist mit Pulcinella seinen Blick aber auf einmal liebevoll in die Vergangenheit. Der Flirt mit der Tradition, den er – zu seinem eigenen Erstaunen – als Blick in den Spiegel erkannte, sollte Folgen haben. Pulcinella markiert den Beginn einer ganzen Reihe von „Liebesverhältnissen“ Stravinskijs mit alten Meistern, eine Schaffenszeit, die man seine „neoklassizistische Periode“ zu nennen pflegt. Die Reaktion der Zeitgenossen auf die neuerliche Eskapade des Komponisten war, wie gesagt, zwiespältig. Die Avantgardisten beklagten die Fahnenflucht, die Hüter des Musik-Erbes sprachen von Vergewaltigung, alte und neue Freunde aber von einer „sorgfältig geplanten, erfolgreich durchgeführten und vollständig ausgekosteten Verführung“. Stravinskij selbst war sich über den Charakter seiner Eroberung auch nicht ganz im Klaren. Auf die Frage, was er von der Musik Pergolesis halte, antwortete er unter Anspielung auf die zahlreichen Fälschungen, die unter diesem Namen kursierten: „Pulcinella ist das einzige Werk, was ich von ihm gern habe“. | S. Sp.