Darius Milhaud


Darius Milhaud, Komponist, Frankreich
Quelle: Alchetron

Darius Milhaud

* 4. September 1892 in Marseille

† 22. Juni 1974 in Genf



Saudades do Brasil


Darius Milhaud

1892–1974

 Saudades do Brasil

Suite de danses

[Klavierfassung opus 67, 1920]

Orchesterfassung

opus 67b [1920–21]

daraus:

Ouverture: Animé

Sorocaba: Modéré

IV  Copacabana: Souple

Ipanema: Nerveux

VI  Gávea: Vivement

XI  Laranjeiras: Alerte

da capo: Ouverture

 

 

16. 1. 2011 ► Konzert Nr. 19


Im dritten Jahr des Ersten Weltkriegs fasste Darius Milhaud einen Entschluss. Geschockt vom Tod eines engen Jugendfreundes an der Front, dabei selbst dienstuntauglich geschrieben, akzeptierte er eine Einladung, die ihm ermöglichte, die bedrückende Situation in seiner französischen Heimat für eine Weile hinter sich zu lassen: Der Dichter und Diplomat Paul Claudel, mit dem Milhaud seit 1913 befreundet war, wurde von der Regierung nach Brasilien entsandt, und er schlug dem jungen Musiker vor, ihn als sein Sekretär zu begleiten. Claudel und Milhaud erreichten die damalige Hauptstadt Rio de Janeiro rechtzeitig zum Karneval 1917. Sofort war der Komponist von der allgegenwärtigen populären Musik seines Gastlandes gefesselt. In seiner Autobiographie »Notes sans musique« (Not[iz]en ohne Musik) beschreibt er die Faszination, die ihre für einen Europäer ungewohnten Rhythmen auf ihn ausübten:

 

»In der Synkopierung war eine nonchalante Art des Atemholens, ein kaum wahrnehmbarer Hiatus, den ich schwer verstand. So kaufte ich mir eine Reihe von Maxixes und Tangos und versuchte, sie ihrem synkopischen Rhythmus gemäß zu spielen, der von einer Hand zur anderen überging. Schließlich wurden meine Bemühungen belohnt, und ich konnte diese so typisch brasilianische Weise sowohl spielen als auch analysieren. Einer der besten Komponisten dieser Art Klaviermusik, Ernesto Nazareth, pflegte vor dem Kino in der Avenida Rio Branco seine unfassbaren, flüssigen und traurigen Melodien zu spielen, die es mir ermöglichten, einen tieferen Einblick in die brasilianische Seele zu tun.«

 

Kurz nach seiner Heimkehr 1919 verarbeitete Milhaud seine Eindrücke der brasilianischen Musik in zwei Werken: der relativ häufig gespielten, als Orchester-Rondo durchkomponierten Ballettmusik Le bœuf sur le toit op. 58 und der weit weniger bekannten, zunächst für Klavier geschriebenen Suite Saudades do Brasil op. 67, einer Folge von zwölf meist melancholischen, zum Teil auch karnevalesk-überschäumenden Tangos bzw. Maxixes. Nicht nur in geographischer, auch in kultureller Hinsicht entstanden die Saudades in weiter Entfernung von Brasilien: Milhaud schrieb sie im Sommer 1920 während eines Besuchs in Kopenhagen, wohin Claudel versetzt worden war. Wenig später unterzog der Komponist die Tänze einer überaus raffinierten, an die Instrumentationskunst Ravels erinnernden Orchestrierung und stellte eine kurze Ouvertüre voran, die Neobarock mit Pasodoble mischt.

 

Das Wort saudade ist in seiner Unübersetzbarkeit ein besonderer Stolz der portugiesischen Sprache. Gewöhnlich wird seine Bedeutung als die wehmütige Sehnsucht nach etwas unwiederbringlich Verlorenem umschrieben – als »die Liebe, die übrig bleibt«. Der Titel Saudades do Brasil spiegelt wohl vor allem Milhauds persönliche Brasilien-Nostalgie wider:

»Der Gedanke, nach Frankreich zurückzukehren und meine Eltern und Freunde wiederzusehen, beglückte mich«, berichtet er über seinen Abschied von Rio. »Aber meine Freude war von wehmütigem Bedauern überschattet: ich hatte mich in Brasilien verliebt!«

 


© M. Z.
© M. Z.

Die Titel der einzelnen Saudades sind Ortsbezeichnungen aus Rio de Janeiro; ihre Folge beschreibt einen Rundtrip durch die Metropole (einige Stationen werden in der heutigen Aufführung übersprungen). Die Tour beginnt in der Rua Sorocaba [1] im Stadtteil Botafogo [2]; sie führt, den Zuckerhut links liegen lassend, zunächst nach Leme [3] im Südosten und von dort westwärts, an den Stränden von Copacabana [4] und Ipanema [5] entlang bis Gávea [6]. Von hier gelangt Milhaud auf geheimnisvolle Weise direkt hinauf auf den nordöstlich gelegenen Corcovado [7], Rios Hausberg, der zur Zeit seines Aufenthalts noch nicht von der berühmten Christus-Statue gekrönt war. Nach einem Abstecher durch den Wald von Tijuca [8] zum Nachbargipfel Sumaré [9] wendet sich der Komponist wieder der Stadt zu, steigt den »offiziellen« Corcovado-Weg über die Paineiras [10] genannten Hänge nach Laranjeiras [11] hinab (benutzt dafür auch die 1884 eröffnete Zahnradbahn, was man unschwer im 10. Satz Paineiras heraushören kann) und beendet seinen Ausflug an der französischen Botschaft in der Rua Paysandú [12] in Flamengo.

 

Musikhistorisch bedeutsam sind Milhauds »brasilianische« Werke zum einen durch die sensible Einführung lateinamerikanischer Elemente in die europäische Konzertmusik (einschließlich eines »Schrapinstruments«, des Güiro oder Güícharo, von dem Milhaud ein Exemplar aus Puerto Rico mitbrachte). Zum anderen sind Le Bœuf sur le toit und die Saudades als Experimentierfelder der sogenannten Polytonalität von Belang, eines der kompositorischen Konzepte, die seit Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden, um der Verbrauchtheit der harmonischen Tonalität zu entkommen. Polytonalität liegt vor, wenn simultane Schichten des Tonsatzes (z. B. Melodie und Begleitung) verschiedene Tonarten ausprägen. So überlagern sich in Sorocaba streckenweise B-Dur und D-Dur, in Copacabana G-Dur und H-Dur, in Ipanema Ges-Dur und C-Dur. Polytonalität und der Rückgriff auf Modelle populärer Musik sind zwei Seiten derselben Medaille, denn polytonale Schichtungen lassen sich als solche umso klarer erfassen, wenn ihnen einfache, übersichtliche und auch konventionell eingeschliffene harmonische Strukturen zugrunde liegen. Der aus dem Zusammenprall der Tonarten resultierende Eindruck »falscher Noten« begünstigt in der Verbindung mit der Bevorzugung schlagerhafter Melodieformeln einen ironisch-verspielten, »unernsten« Ausdruck der Musik. Ein leichtherziges Crossover ist besonders für die französische musikalische Moderne der 20er-Jahre typisch; es korrespondiert mit der Ablehnung einer wagnerisch geprägten, psychologisch überhitzten und metaphysisch überfrachteten Spätromantik, die mit der untergegangenen Vorkriegsordnung identifiziert wurde. Gleichwohl demonstrieren die Saudades – und hierin unterscheiden sie sich deutlich vom quirligen Bœuf sur le toit –, dass eine spielerische kompositorische Haltung und die Vermeidung von Schwulst einen melancholischen und zuweilen sogar grüblerischen Tonfall keineswegs ausschließen. | Tobias Faßhauer

 

Quellen:

– Darius Milhaud: Noten ohne Musik, München 1962

– Plan von Rio de Janeiro: www.orangesmile.com/destinations/img/rio-de-janeiro-map-big.jpg; Ausschnitt bearbeitet von Michael Zachow