Aaron Copland
* 14. November 1900 in Brooklyn, New York
† 2. Dezember 1990 in North Tarrytown
Nach dem Ersten Weltkrieg war ein Exodus vieler amerikanischer und kanadischer Künstler nach Europa zu beobachten. Für Schriftsteller wie auch Komponisten war Paris die Stadt mit der größten Anziehungskraft. Es war eine großartige Zeit für künstlerische Auseinandersetzung und Austausch zwischen den Kontinenten. 1920 ging auch Aaron Copland nach Paris und fand sich – obwohl er das nicht beabsichtigt hatte, trotz mangelnder französischer Sprachkenntnisse und ohne Kontakte in Frankreich – in der berühmten Kompositionsklasse von Nadia Boulanger wieder. Im Unterschied zu vielen Professoren jener Tage hatte sich Boulanger durch Wertschätzung und Ermutigung dem Zustrom ausländischer Komponisten geöffnet (Astor Piazzolla, Quincy Jones, Philip Glas); vor allem polnische Komponisten und Komponistinnen waren ihre Schüler (u. a. Grażyna Bacewicz, Zygmunt Krauze, Marta Ptaszyńska, Kazimierz Serocki, Stanisław Skrowaczewski, Antoni Wit). Dieses Milieu befruchtete den jungen Copland, der nach seinen eigenen Worten „in einer Straße in Brooklyn, die man nur als trüb bezeichnen kann,“ aufgewachsen war. Seine Familie war gänzlich unmusikalisch; Copland war Außenseiter von Anfang an, eine Lebensperspektive, die ihm half die Anstrengungen beim Suchen des eigenen kompositorischen Stils zu durchstehen.
»Letter from Home« ist ein gutes Beispiel dafür, wie Copland Erfahrungen neuer musikalischer Trends während seines Europa-Aufenthalts in einen wahrnehmbar amerikanischen Stil einfließen ließ. Oft wurde gesagt, dass Copland der nachfolgenden Komponistengeneration gezeigt habe, wie man Klassische Musik auf amerikanische Art komponiere. Das heißt bei ihm aber nicht: simple Harmonien, schlichte Volksweisen und einfache Orchestrierung. Denn im Unterschied zu anderen bekannten modernen Komponisten, die volkstümliches Material nur instrumentierten oder imitierten, lässt Copland die Melodien vollständig in der musikalischen Textur seiner Arbeiten aufgehen. Beispiele dafür finden sich in seinen Ballettmusiken »Rodeo« (1942) und »Appalachian Spring« (1943–44).
»Letter from Home« entstand auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs. 1944 erhielt Copland von dem damals noch neuen Radio-Sender ABC den Auftrag eine Komposition für die »Philco Radio Hour« zu schreiben. Paul Whiteman, seinerzeit wohl der bekannteste amerikanische Bandleader, leitete die Sendepremiere. – Impressionistisch, von sanfter Wehmut geprägt, beschwört das Stück Heimweh-Gefühle herauf. Überschrieben ist es mit „Moderato, with simple warmth (mit schlichter Wärme)“, und verlangt für einzelne Passagen, dass sie „breit ausgesungen“ (broadly sung) werden. „Es ist sehr sentimental, wobei man es allerdings nicht zu wörtlich nehmen sollte –“, schrieb Copland selbst über sein Stück, „ich wollte lediglich jene Art von Gefühl ausdrücken, das der Empfänger eines Briefes aus der Heimat empfinden mag.“
1962 holte Copland die Komposition wieder aus der Schublade. Dass er sich entschloss sie noch einmal durchzusehen, könnte Hinweis darauf sein, dass sie für ihn eine neue, persönlichere Bedeutung bekommen hatte. War es damals ein Brief von Zuhause, voll von nostalgischen Gedanken, die dem jungen Amerikaner im Paris seiner prägenden Jahre durch den Kopf gegangen waren? Oder ist das Stück nach zwanzig Jahren doch eher ein Rückgriff auf seine europäischen Wurzeln – ein Versuch zu zeigen wie sich nordamerikanische und europäische Schreibweisen auf fruchtbarste Weise verschmelzen lassen?
E. S. W. / M. Z.