Louis Hector Berlioz
* 11. Dezember 1803 in La Côte-Saint-André, Département Isère
† 8. März 1869 in Paris
Émile Signol 1804–1892
Hector Berlioz. 1832
Rom, Académie de France, Villa Medici
Hector Berlioz
1803–1869
Épisode de la vie d’un artiste:
Symphonie fantastique
en cinq parties |
Episode aus dem Leben eines Künstlers:
Fantastische Sinfonie
in fünf Teilen
op. 14, H 48 [1830, UA Paris 1830]
1
Rêveries – Passions |
Träumereien – Leidenschaften
Largo – Allegro agitato e appassionato assai – Religiosamente
2
Un bal. Valse | Ein Ball. Walzer
Allegro non troppo
3
Scène aux champs |
Szene auf dem Lande
Adagio
4
Marche au supplice |
Der Gang zum Richtplatz
Allegretto non troppo
5
Songe d’une nuit de sabbat | Hexensabbat
Larghetto – Allegro
16. und 17. Februar 2019
Berlioz ließ das Programm der Symphonie fantastique an das Publikum verteilen, weil er es zum völligen Verständnis des dramatischen Planes für unerlässlich hielt (Version 1855):
Ein junger Mann von krankhafter Empfindsamkeit und glühender Phantasie, hat sich in einem Anfalle verliebter Verzweiflung mit Opium vergiftet. Zu schwach, den Tod herbeizuführen, versenkt ihn die narkotische Dosis in einen langen Schlaf, den die seltsamsten Visionen begleiten. In diesem Zustande geben sich seine Empfindungen, sein Gefühle und Erinnerungen durch musikalische Gedanken und Bilder in seinem kranken Gehirne kund. Die Geliebte selbst wird für ihn zur Melodie, gleichsam zu einer fixen Idee, die er überall wiederfindet, überall hört.
ERSTER TEIL Rêveries, passions (Traumbilder, Leidenschaft) — Zuerst gedenkt er des beängstigenden Seelenzustandes, der dunklen Sehnsucht, der Schwermut und des freudigen Aufwallens ohne bewußten Grund, die er empfand, bevor ihm die Geliebte erschienen war; sodann erinnert er sich der heißen Liebe, die sie plötzlich in ihm entzündet, seiner fast wahnsinnigen Herzensangst, seiner eifersüchtigen Wut, seiner wieder erwachenden Liebe, seiner religiösen Tröstungen.
ZWEITER TEIL Un bal (Auf dem Balle) — Auf einem Balle, inmitten des Geräusches eines glänzenden Festes, findet er die Geliebte wieder.
DRITTER TEIL Scène aux champs (Auf dem Lande) — An einem Sommer-Abende, auf dem Lande, hört er zwei Schäfer, die abwechselnd den Kuhreigen blasen. Dieses Schäferduett, der Schauplatz, das leises Flüstern der sanft vom Winde bewegten Bäume, einige Gründe zur Hoffnung, die ihm erst kürzlich bekannt geworden, alles vereinigt sich, um seinem Herzen eine ungewöhnliche Ruhe wiederzugeben, seinen Vorstellungen ein lachendes Colorit zu verleihen. Da erscheint sie auf's Neue; sein Herz stockt, schmerzliche Ahnungen steigen in ihm auf: wenn sie ihn hinterginge! ... Der eine Schäfer nimmt die naive Melodie wieder auf; der Andere antwortet nicht mehr ... Sonnenuntergang ... fernes Rollen des Donners ... Einsamkeit ... Stille ...
VIERTER TEIL Marche au supplice (Der Gang zum Richtplatz) — Ihm träumt, er habe seine Geliebte gemordet, er sei zum Tode verdammt und werde zum Richtplatze geführt. Ein bald düsterer und wilder, bald brillanter und feierlicher Marsch begleitet den Zug; den lärmendsten Ausbrüchen folgen ohne Übergang dumpfe, abgemessene Schritte. Zuletzt erscheint neuerdings die fixe Idee, auf einen Augenblick, gleichsam ein letzter Liebesgedanke, den der Todesstreich unterbricht.
FÜNFTER TEIL Songe d'une nuit du Sabbat (Traum von einer Walpurgisnacht) — Er glaubt einem Hexentanze beizuwohnen, inmitten grausiger Gespenster, unter Zauberern und vielgestaltigen Ungeheuern, die sich zu seinem Begräbnisse eingefunden haben, Seltsame Töne, Ächzen, gellendes Lachen, fernes Schreien auf welches anderes Geschrei zu antworten scheint. Die geliebte Melodie taucht wieder auf, aber sie hat ihren edlen und schüchternen Charakter nicht mehr; sie ist zu einer gemeinen, trivialen und grotesken Tanzweise geworden, sie ist's die zur Hexenversammlung kommt. Freudiges Gebrüll begrüßt ihre Ankunft ... Sie mischt sich unter die höllische Orgie; Sterbegeläute ... burleske Parodie des Dies Irae; Hexen-Rundtanz. Das Rondo und das Dies irae zu gleicher Zeit.
Französischer Original-Text:
Site Hector Berlioz ► http://www.hberlioz.com/Scores/fantasf.htm
Heinrich Heine
Über die Französische Bühne.
Vertraute Briefe
an August Lewald.
Geschrieben im Mai 1837, auf einem Dorfe bei Paris.
Zehnter Brief
… Berlioz und Liszt. Die beiden letzteren sind wohl die merkwürdigsten Erscheinungen in der hiesigen musikalischen Welt; ich sage die merkwürdigsten, nicht die schönsten, nicht die erfreulichsten. Von Berlioz werden wir bald eine Oper erhalten. Das Sujet ist eine Episode aus dem Leben Benvenutos Cellini, der Guß des Perseus. Man erwartet Außerordentliches, da dieser Komponist schon Außerordentliches geleistet. Seine Geistesrichtung ist das Phantastische, nicht verbunden mit Gemüt, sondern mit Sentimentalität; er hat große Ähnlichkeit mit Callot, Gozzi und Hoffmann. Schon seine äußere Erscheinung deutet darauf hin. Es ist schade, daß er seine ungeheure, antediluvianische Frisur, diese aufsträubenden Haare, die über seine Stirne, wie ein Wald über eine schroffe Felswand, sich erhoben, abschneiden lassen; so sah ich ihn zum ersten Male vor sechs Jahren, und so wird er immer in meinem Gedächtnisse stehen. Es war im Conservatoire de musique, und man gab eine große Symphonie von ihm, ein bizarres Nachtstück, das nur zuweilen erhellt wird von einer sentimentalweißen Weiberrobe, die darin hin und her flattert, oder von einem schwefelgelben Blitz der Ironie. Das Beste darin ist ein Hexensabbat, wo der Teufel Messe liest und die katholische Kirchenmusik mit der schauerlichsten, blutigsten Possenhaftigkeit parodiert wird. Es ist eine Farce, wobei alle geheimen Schlangen, die wir im Herzen tragen, freudig emporzischen.
Mein Logennachbar, ein redseliger junger Mann, zeigte mir den Komponisten, welcher sich, am äußersten Ende des Saales, in einem Winkel des Orchesters befand und die Pauke schlug. Denn die Pauke ist sein Instrument. »Sehen Sie in der Avant-scène«, sagte mein Nachbar, »jene dicke Engländerin? Das ist Miß Smithson; in diese Dame ist Herr Berlioz seit drei Jahren sterbens verliebt, und dieser Leidenschaft verdanken wir die wilde Symphonie, die Sie heute hören.« In der Tat, in der Avant-scène-Loge saß die berühmte Schauspielerin von Coventgarden; Berlioz sah immer unverwandt nach ihr hin, und jedesmal, wenn sein Blick dem ihrigen begegnete, schlug er los auf seine Pauke, wie wütend. Miß Smithson ist seitdem Madame Berlioz geworden, und ihr Gatte hat sich seitdem auch die Haare abschneiden lassen. Als ich diesen Winter im Conservatoire wieder seine Symphonie hörte, saß er wieder als Paukenschläger im Hintergründe des Orchesters, die dicke Engländerin saß wieder in der Avant-scène, ihre Blicke begegneten sich wieder ... aber er schlug nicht mehr so wütend auf die Pauke. […]
Zuerst veröffentlicht in der »Allgemeinen Theaterrevue« 1837, dann in »Salon« Band IV (1840).
Claude-Marie Dubufe
Portrait d'Harriet Smithson (1800-1854)
1830
Öl auf Leinwand
Photo (C) RMN-Grand Palais (musée Magnin) / René-Gabriel Ojéda
Dijon, musée Magnin
Felix Mendelssohn
Brief an Lea Mendelssohn, 15. März 1831
Nun solltet Ihr aber Berlioz kennen mit seiner Musik! Der macht mich förmlich traurig, weil er ein wirklich gebildeter angenehmer Mensch ist, und so unbegreiflich schlecht componirt. Er reist übermorgen schon wieder ab, und geht zurück nach Paris, er scheint fürchterlich verliebt zu sein, und hat demzufolge eine Sinfonie gemacht, die épisode de la vie d’un artiste heißt. Als sie gegeben wurde, ließ er eine Erklärung von 2000 Exemplaren drucken, die besagt denn, daß der Componist im ersten Stück mit seinem Thema eine liebenswürdige Dame gedacht hat, die den Künstler eingenommen hat, und dasß seine Wut, Eifersucht, Zärtlichkeit, u. Thränen etc. darin vorkommen; … das fünfte und letzte [Stück] heißt Songe d’un nuit du Sabbat, wo er die Hexen auf dem Bloxberg tanzen sieht, seine Geliebte darunter, zugleich hört er das Dies irae mit seinem Cantus Firmus, aber parodirt; die Hexen walzen dazu. Wie unbeschreiblich eklig mir dies ist, brauche ich nicht zu sagen; seine liebsten Ideen entstellt und mißverstandene Caricaturen davon zu sehen, muß einen recht empören, und doch ist das nur das Programm. Die Ausführung ist noch viel elender, nirgends ein Funke, nirgends Wärme, kalte Thorheiten, kalte Leidenschaftlichkeit dargestellt durch alle möglichen Mittel, … eine gänzliche Dürre und Gleichgültigkeit, ein bloßes Grunzen, Schreien, Kreischen hin und her … und sieht man nun ihn selbst, den freundlichen, nachdenklichen Menschen, wie er so ruhig u. sicher seinen Weg geht, u. an seinem Beruf so keinen Augenblick zweifelt, sich auch an keine Stimme von Außen kehren kann, weil er seinem Innersten zu folgen denkt, wie scharf u. richtig er alle Dinge beurtheilt u. erkennt, nur über sich ganz im Finstern ist, das ist unsäglich furchtbar …
Felix Mendelssohn
Brief an die Familie, Rom 29. März 1831
Berlioz verzerrt, ohne einen Funken Talent; im Finstern herumtappend, der sich dabei für den Schöpfer einer neuen Welt hält, die gräßlichsten Sachen schreibt und nichts träumt und denkt als Beethoven, Schiller und Goethe; zugleich von einer gränzenlosen Eitelkeit, und auf Mozart und Haydn hinabschauend, so daß mir sein ganzer Enthusiasmus sehr zweifelhaft wird … Du sagst liebe Mutter, Berlioz müsse etwas wollen; da bin ich aber gar nicht Deiner Meinung: ich glaube, er will sich verheirathen, und ist eigentlich schlimmer, wie die andern, weil er affectirter ist. Ich mag diesen nach außen gekehrten Enthusiasmus, diese den Damen präsentirte Verzweiflung, und die Genialität in Fraktur, schwarz auf weiß, ein für allemal nicht ausstehen, und wenn er nicht ein Franzose wäre, mit denen es sich immer angenehm leben läßt, und die immer etwas zu sagen und zu interessiren wissen, so wäre es nicht zum Aushalten.
Felix Mendelssohn, Reisebriefe. 15. März: Bodleian Library, Oxford, MS M. Deneke Mendelssohn d. 13; Briefe aus den Jahren 1830 bis 1847 von Felix Mendelssohn Bartholdy. Erster Band. Leipzig 1865. Google Books: Digitalisat Stanford University
Am 5. Dezember 1830, im illuminierten Konzertsaal des Conservatoire zu Paris, kommt an diesem Abend ein Werk in die Welt, um diese zu erstaunen: nachhaltig und dauerhaft. Geniestreich eines noch nicht einmal 27-Jährigen, dazu eine Komposition, die wie kaum eine zweite die Genrebezeichnung »Symphonische Dichtung« verdient. Ihr Schöpfer bezeichnet sie gleichwohl dezidiert als drame musical, als musikalisches Drama, und er tut dies in Referenz an all’ jene bedeutenden Dramen der Weltliteratur, die ebenfalls dem fünfaktigen Schema folgen. Die Rede ist, man ahnt es schon, von der Symphonie fantastique. Ihr Autor Hector Berlioz hat hier eine Tonschöpfung vorgelegt, in der sich shakespearescher Furor mit der blühenden Fantasie und einer außergewöhnlichen Erfindungsgabe des Komponisten sowie einem veritablen Formbewusstsein verklammert zu einem drame instrumental, das seine Wirkung auf den Hörer von der Uraufführung an bis heute niemals verfehlte.
Fünf Episoden aus dem Leben eines Künstlers sind hier in tönend bewegter Form ausgebreitet; eine schillernder als die andere, und doch formal gebändigt durch die Errungenschaften der Klassik, genauer: durch die Sonatenform. Heinrich Heine urteilte gewiss nicht falsch, als er die Symphonie fantastique ein »bizarres Nachtstück« nannte, »das nur zuweilen erhellt wird von einer sentimentalweißen Weiberrobe, die darin hin- und herflattert, oder von einem schwefelgelben Blitz der lronie«. Wesentlich für das gesamte Werk ist zunächst einmal das Unbestimmte der Leidenschaften, welche darin klingend zum Ausdruck gebracht werden: am radikalsten im Traum einer Sabbatnacht, dem fünften und abschließenden Satz. Hinzu kommen die Aufstellung und Etablierung einer idée fixe, die gleichsam als Ariadne-Faden sämtliche Sätze dieser Symphonischen Dichtung durchzieht, und schließlich das dem Werk zugrunde liegende autobiografisch-literarische Programm. Das Programm ist das eine; die formale Konstitution etwas anderes: Ein wesentlicher Unterschied zu Beethovens Formkonzeption (Berlioz entbietet ihr mit besonderem Verweis auf die Sechste Symphonie des Titanen seine Reverenz) besteht darin, dass sie im Falle der Symphonie fantastique nicht aus der Zergliederung des thematischen und motivischen Materials erwächst, sondern gerade unabhängig davon.
Der Kopfsatz, Rêveries – Passions, lässt sich von diesem Blickwinkel her durchaus auf einen Sonatensatz zurückführen, in welchem die idée fixe wie ein Hauptthema an zentralen Punkten hervortritt. Die weitere Entwicklung aber, in deren Verlauf diese Punkte miteinander verbunden werden, vermeidet Rückgriffe auf das Thema. Dieses bleibt gleichsam unangetastet, eine Art Zwangsvorstellung, die den imaginären Helden durch das gesamte Stück hindurch verfolgt und ihn »aus jenem Zustand melancholischer Träumerei zu jenem einer wahnsinnigen Leidenschaft« (Berlioz) führt. An die Stelle des Themas treten anders gefügte, aber ebenso elementare Momente: ein bohrender pochender Rhythmus, eine chromatisch geführte, durch die Instrumentation verstärkte Harmonik, ein zunehmend heroischer Impetus. Sie alle bestimmen das dramatische Geschehen.
Besonders deutlich wird dies in der Reprise. Zwar erscheint hier das Hauptthema in triumphalem Fortissimo, doch die Steigerung führt über dieses hinaus und verselbständigt sich zu einem Gebilde, das vom eigentlichen Thema nurmehr das harmonische und metrische Gerüst übrig lässt. Diese eigentliche thematische Gestalt wiederum bleibt davon, wie schon erwähnt, unberührt; sie führt ein autonomes Leben und bekundet das am Ende des Satzes, wo sie sich – Berlioz notiert hier »religiosamente« – nochmals ganz und gar unversehrt zeigt.
Der Atmosphäre des zweiten Satzes, Un bal, passt die idée fixe sich zunächst an: In vollendeter Grazie tritt sie im Kontext eines charmanten Walzers auf. Allein, die Ruhe dauert nicht lange – zu sehr versetzt den Künstler das »geliebte Bild« in Bedrängnis und Unruhe. In der finalen Steigerung wird die Verbindung zwischen idée fixe und Walzer aufgebrochen. Das Drama nimmt seinen Lauf, herausgehoben durch eine virtuose Kornett-Partie, die Berlioz später hinzugefügt hat.
Eine seltsame »Mischung aus Hoffnung und Furcht«, so Berlioz, durchzieht den dritten Satz, die Scène aux champs. Hinter dem vorgeblichen Frieden, den das pastoral anmutende Eingangsthema in diesem Adagio suggeriert, verbirgt sich ein Konflikt, der beim Erklingen der idée fixe offen zutage tritt. Das fremde Thema mag sich nicht in das Schema des ruhig dahin fließenden Dreivierteltaktes einfügen; zu groß sind die Differenzen. Zwar vereint Berlioz die beiden »Kontrahenten« für eine kurze Zeit doch noch – wobei er keinen Hehl daraus macht, dass ihm Beethovens Pastorale hier als Vorbild gedient hat –; spätestens in jenem Donnergrollen der Pauken, mit dem der Komponist ein Bild »düsterer Vorahnungen« beschwört, wird allerdings deutlich, dass die Angelegenheit dem Unheilvollen zustrebt.
Diese Befürchtung bestätigt sich im folgenden Allegretto non troppo mit dem Titel Marche au supplice. Gegen das hier anklingende mächtig-markante Metrum vermag die melodiöse Energie der idée fixe nur sehr bedingt etwas auszurichten. Ihre Konsistenz zerschellt gewissermaßen an den rhythmischen Riffen. Berlioz zieht daraus Konsequenzen.
Im finalen Songe d’une nuit du sabbat bringt er gleich zu Beginn die beiden Elemente Klang und Rhythmus unmittelbar gegeneinander in Stellung. Aus diesem Konflikt entwickelt der Satz seinen Reiz, seine Dramatik, seine Sechsachteltakt-Rasanz. Drei Anläufe unternimmt die Musik, um sich aus einer thematischen Exposition heraus zu entwickeln: Nacheinander folgen die idée fixe (allerdings in so grotesker Verformung, dass man sich schwer tut, sie wiederzuerkennen), ein wilder Hexentanz sowie eine »Dies irae«-Sequenz aus der lateinischen Totenmesse, die schließlich mit dem Hexentanz kombiniert wird. Ein Höllenspektakel hebt an, das in immer neuen Steigerungen hin zur Ekstase treibt – und letztendlich in ein bizarr-fantastisches, beinahe parodistisches Ende mündet.
Textvorlage Jürgen Otten,
mit freundlicher Erlaubnis des Ärzte-Orchesters Berlin
Hector Berlioz
1803–1869
»Le carnaval romain«
[Römischer Karneval]
Ouvertüre über Themen
aus der Oper »Benvenuto Cellini«
op. 9 [1844]
Allegro assai con fuoco
– Andante sostenuto
– Allegro vivace
9. 2. 2008 ► Konzert Nr. 13
»Römische Karnevalsszene«
Kupferstich von Johannes Thomas
Grandville
(d. i. Jean Ignace Isidore Gérard)
»Concert à mitraille« (= Kugelregen)
Karikatur
auf die lärmende Instrumentation
Hector Berlioz’ 1845
Holzschnitt 175 x 128 mm
Illustration in:
Louis Reybaud
»Jérome Paturot à la Recherche d’une Position sociale. Seconde partie«
Paris 1846
1830 gewann Berlioz mit dem »Prix de Rome« ein fünfjähriges Stipendium, das – sehr zu seinem Verdruss – an die Bedingung geknüpft war, sich mindestens zwei Jahre lang in Rom aufzuhalten.
In seinen Memoiren beschreibt er seine Verfassung:
„Nimmt man nun hierzu noch [...] den Ärger über meine zweijährige Verbannung aus der musikalischen Welt [als der musikalische Mittelpunkt der zivilisierten Welt galt ihm Paris, nicht Rom], ferner eine unerklärliche, aber tatsächliche Unfähigkeit, an der Akademie zu arbeiten, so wird man begreifen, wie stark der Lebensüberdruss sein musste, der mich verzehrte. Ich war bösartig wie ein Kettenhund. Die Bemühungen meiner Kameraden, mich an ihren Vergnügungen teilnehmen zu lassen, reizten mich nur noch mehr. Das Entzücken, das sie an den Freuden des Karnevals fanden, brachte mich besonders auf. Ich konnte nicht begreifen (und kann es auch jetzt noch nicht), welches Vergnügen man an den Belustigungen haben kann, die man in Rom wie in Paris die ,fetten Tage‘ nennt! [...] In der Tat sehr fett, das heißt voll Überfluss; voll Überfluss an Schmutz, an Schminke und Puder, an unflätigen Anzüglichkeiten, an groben Beleidigungen, an Freudenmädchen, an trunkenen Polizeispitzeln, an unanständigen Masken, an Trotteln, die bewundern, an Müßiggängern, die sich langweilen. In Rom, wo sich die guten Traditionen des Altertums erhalten haben, pflegte man noch vor kurzem den ,fetten Tagen‘ ein Menschenopfer zu bringen.“
Die Ouverture charactéristique »Le carnaval romain« komponierte er dann mit einigem Abstand, nämlich 1843 / 1844. In der Wiener Zeitung »Zuschauer« war am 3. Dezember 1845 zu lesen:
„Das dritte und letzte Konzert des Herrn Hektor Berlioz [am 29. November, im k. k. priv. Theater and der Wien] hat mit entschiedenem Beifall und Anerkennung seines eigenthumlichen, vielleicht uns noch fremdartigen, aber doch unbestritten großen Talentes Statt gefunden. […] Die Ouvertüre zum »Carnaval von Rom« erregte Enthusiasmus und mußte unter wahrem Beifallsturme, nachdem der Vorhang schon gefallen war, auf allgemeines Verlangen wiederholt werden.“
Berlioz war bald schon bekannt für die Riesenorchester, die er zur Aufführung seiner Werke verlangte. Fürst Metternich soll Berlioz einmal gefragt haben: „Sie sind es wohl, Herr Berlioz, der Musikstücke für fünfhundert Musiker komponiert?“ Worauf er antworte: „Nicht immer, Durchlaucht, mitunter auch für vierhundertfünfzig.“
Dass es auch anders ging, schreibt Berlioz in einem Brief an Girard:
„[...] Hechingen [...] Sehr rasch orientierte er [Taeglichsbeck, Komponist in Hechingen, bei dem Berlioz zu Gast war] mich über die musikalischen Kräfte, die uns zur Verfügung standen. Das waren im ganzen acht Violinen, darunter drei sehr schwache, drei Bratschen, zwei Violoncelli, zwei Kontrabässe. [...] Ich sehe Sie lachen, mein lieber Girard, und sehe die Frage auf Ihren Lippen, was ich mit einem so kleinen Orchester habe ausrichten können. Nun, mit Geduld und gutem Willen haben wir, nachdem gewisse Stellen eingerichtet und zugeschnitten worden waren, mit fünf Proben in drei Tagen die »Ouvertüre zu König Lear«, den »Pilgermarsch«, den Ball aus der »Phantastischen Symphonie« und verschiedene andere Fragmente einstudiert, die ihren Größenverhältnissen nach in den Rahmen passten, der ihnen bestimmt war. Und alles ist sehr gut gegangen, mit Präzision und sogar mit Schwung.“
In seinen Memoiren berichtet Berlioz:
„Als ich einige Jahre später die Ouvertüre Carnaval romain geschrieben hatte, deren Allegro als Thema denselben Saltarello hat, den [der Dirigent] Hebeneck nie ins richtige Tempo hatte bringen können, befand er sich an dem Abend der Erstaufführung dieser Ouvertüre im Saal Herz. Er hatte gehört, dass der Dienst der Nationalgarde einen Teil meiner Musiker in Anspruch genommen hatte und dass wir in der Probe am Vormittag ohne Blasinstrumente gespielt hatten. ,Gut‘, hatte er sich gesagt, ,heute Abend wird in seinem Konzert irgendeine Katastrophe stattfinden, das muss ich mir ansehen!‘ In der Tat, als ich in den Orchesterraum kam, umringten mich alle Künstler, die die Partien der Blasinstrumente zu spielen hatten, erschrocken bei dem Gedanken, eine Ouvertüre, die ihnen gänzlich unbekannt war, vor Publikum zu spielen.
,Haben Sie keine Angst‘, sagte ich zu ihnen, ,die Stimmen sind richtig [soll heißen: korrekt abgeschrieben, was seinerzeit durchaus nicht die Regel war], Sie sind talentvolle Leute, sehen Sie so oft wie möglich auf meinen Taktstock, und es wird gut gehen.‘
Es wurde kein einziger Fehler gemacht. Ich gab dem Allegro die wirbelnde Bewegung der Tänzer jenseits des Tibers; das Publikum rief: ,Da capo!‘ Wir begannen die Ouvertüre von neuem; sie wurde das zweite Mal noch besser wiedergegeben; und als ich in das Foyer zurückkehrte, wo sich Habeneck in einiger Enttäuschung befand, warf ich ihm im Vorbeigehen diese vier Worte zu: ,So macht man das!‘, auf die er sich hütete zu antworten.
Nie habe ich lebhafter als bei dieser Gelegenheit das Glück empfunden, die Aufführung meiner Werke selbst zu leiten; meine Freude verdoppelte sich bei dem Gedanken an die Qualen, die mich Habeneck [bei früheren Aufführungen Berliozscher Werke] hatte ausstehen lassen. – Arme Komponisten! Lernt euch selbst aufführen, und zwar gut aufführen (mit oder ohne Wortspiel), denn der gefährlichste eurer Dolmetscher ist der Dirigent, vergesst das nicht.“
| Michael Knoch
Berlioz »Mémoires«. Leipzig o. J., Reclam, S. 151, 237, 278, 481 – www.hberlioz.com – Grandville – Gesamtwerk in 2 Bd. n. Büchergilde Gutenberg. Abb. 1454