May Aufderheide


May Aufderheide, Komponistin,
http://historicindianapolis.com

May Frances Aufderheide Kaufmann

* 21. Mai 1888 in Indianapolis

† 1. September 1972 in Pasadena (Kalifornien)



»Dusty Rag« und »The Thriller!«


May Aufderheide

1888(?)–1972

 »Dusty Rag« und »The Thriller!« [1908/1909]

in der Fassung für Orchester [2008]

von Tobias Fasshauer, UA

 


17. 1. 2009  ► Programm Nr. 15 

 

15. 11. 2009 ► Jubiläumskonzert

10 Jahre concentus alius 

 

10. 6. 2012 ► Benefizkonzert für ein Magnus-Hirschfeld-Denkmal

 

2. 9. 2012 ► Sommerfest Berlinische Galerie 


J. Will Callahan

Dusty Rag Song (1912)

 

Way down in Tennessee

Happy as he can be

Under the Dixie moon

There lives a lazy coon,

White folks they call him “Joe”,

But he says, that ain’t so,

“Dusty’s” his name!

An’ when the moonlight shines

Down on the melon vines,

Then Mr. Dusty Snow,

He gets that old banjo.

Hear him tune up!

An’ start to play.

 

REFRAIN

Tinkle, tinkle, tinkle, hear that tune,

Stars begin to twinkle to the moon,

When I hear that magic harmony

Angels seem to whisper love to me.

I just want to love him, hold him tight!

I could keep on dancin’ all the night,

Sets my heart a thumpin’, playin’ tag,

Oh! It’s the Dusty Rag.

 

Some day I hope to go

Back there to Dusty Snow,

Way down in Tennessee,

Then Dusty’s bride I’ll be,

We’ll live on kidney stew,

Porkchops an’ possum, too.

An’ buckwheat cakes!

An’ ev’ry summer night

Under the pale moonlight,

Then Mr. Dusty Snow,

He’ll get that old banjo,

Hear him tune up!

An’ start to play.

 

Eine von den Ragtime-Forschern Max Morath und John E. Hasse zusammengestellte Auflistung von Rags, die in den USA vor 1930 von Frauen komponiert wurden, nennt ohne Anspruch auf Vollständigkeit Stücke von rund 230 Komponistinnen. Diese beachtliche Zahl wirkt nur auf den ersten Blick überraschend. Die klavierspielenden Frauen der amerikanischen Mittelschicht waren die vorrangige Zielgruppe jedweder kommerziellen sheet music (d. h. Einzelausgaben von Songs und Klavierstücken beziehungsweise -arrangements), und dazu gehörte um 1900 mit seiner neuartigen, ja revolutionären Synthese afro-

amerikanischer Rhythmik und europäischer Tonalität, Metrik und Form der Ragtime an vorderster Stelle. Bei der gewaltigen Masse von Konsumentinnen mussten nahezu gesetzmäßig auch auf der Produktionsseite dieser Musik viele Frauen zu finden sein, zumal die vorherrschende männliche Einstellung zur Musikausübung in den USA der Belle Époque noch stark von den Macho-Werten der Pionierzeit bestimmt war: Eine intensive oder gar professionelle musikalische Betätigung galt für einen Mann – einen weißen, wohlgemerkt – gemeinhin als unpassend. Die Begeisterung, die weiße Mittelklasse-Amerikanerinnen einem Musikstil entgegenbrachten, der von schwarzen Musikern entwickelt worden war, bleibt nichtsdestotrotz ein bemerkenswertes Faktum. Überspitzt könnte man behaupten, Ragtime sei in erster Linie eine Musik schwarzer Männer und weißer Frauen gewesen. 

1908 – Indiana University
1908 – Indiana University

Die wohl bekannteste der Ragtime Women ist die vermutlich 1888 in Indianapolis geborene May Frances Aufderheide. Von ihrer Tante May Kolmer, einer professionellen Musikerin, im Klavierspiel unterwiesen, begann sie noch als Teenager, Piano Rags zu komponieren. Im Jahr 1908 erschien als erste ihrer Kompositionen der Dusty Rag in einer improvisierten Druckausgabe und erzielte vielversprechende Verkaufszahlen. Der lokale Anfangserfolg von Dusty veranlasste den Vater der Komponistin, den Geschäftsmann John H. Aufderheide, einen Verlag zu gründen, um die Verbreitung der Werke seiner Tochter und anderer Mitglieder der Ragtime-Szene von Indianapolis fortan selbst in die Hand zu nehmen. 

Der Dusty Rag erreichte eine landesweite dauerhafte Popularität, was u. a. durch die Tatsache belegt wird, dass bei J. H. Aufderheide & Co. noch 1912 eine Song-Version des Stückes veröffentlicht wurde, die selbst allerdings kein Erfolg gewesen sein soll. Das Titelblatt wirbt mit dem Vaudeville-Star Gene Greene, der dieses Lied in sein Programm aufnahm. Der von J. Will Callahan verfasste Gesangstext (siehe Randspalte) ist exemplarisch für den sogenannten Coon Song, die vokale Variante des Ragtimes. Durch die Texte der Coon Songs – coon, abgeleitet von racoon (Waschbär), war eine gängige Bezeichnung weißer Amerikaner für ihre schwarzen Mitbürger – kommt die ganze Ambivalenz zum Vorschein, von der die Vereinnahmung des Ragtimes durch die weiße Mehrheitsgesellschaft und ihre Unterhaltungsindustrie geprägt war. Faszination und Abwehr durchdringen sich: Als Ausdruck der Triebnatur des Menschen – die man im schwarzen Mann archetypisch verkörpert sah – erschienen die vitalen Ragtime-Rhythmen überaus attraktiv; die mit dieser Verlockung assoziierte Bedrohung von Sitte, Moral und Rassereinheit galt es gleichwohl unter Kontrolle zu halten. Dies geschah über die Mobilisierung herabsetzender rassischer Klischees und Stereotype. Im vorliegenden, vergleichsweise harmlosen Fall wird die Entlastungsfunktion von der Figur des »lazy coon« Dusty übernommen, dessen hauptsächliche Beschäftigung im Banjospielen besteht. Immerhin enthält der Text auch eine Anspielung auf die Oktroyierung von Eigennamen während der Sklaverei: »White folks they call him ‘Joe,’ but he says that ain’t so«.

 

May Aufderheide, die im Jahr der Erstveröffentlichung von Dusty den Architekten Thomas Kaufman geheiratet hatte, schrieb ihre weiteren 15 publizierten Kompositionen in den ersten Jahren ihrer Ehe; die letzte erschien 1914. Über die Gründe dieses Verstummens lässt sich nur spekulieren. Die  Alkoholkrankheit des Ehemanns, auf die in diesem Zusammenhang oft verwiesen wird, scheint jedenfalls erst in einer späteren Lebensphase virulent geworden zu sein. 

 

Obwohl Aufderheides Komponieren unüberhörbar vom »klassischen« Piano Rag beeinflusst ist – und eine Stelle in ihrem Rag The Thriller! (1909) sogar fast notengetreu Scott Joplins The Entertainer zitiert –, ist ihr Stil doch durchaus eigenständig und besonders in harmonischer Hinsicht up to date. Anstatt, wie in der älteren Unterhaltungsmusik üblich, längere Abschnitte nur mit Tonika- und Dominantklängen zu begleiten, bedient sich Aufderheide wiederholt bereits eines Verfahrens, das einige Jahre später zu den Markenzeichen der Harmonik der Broadway- und Tin-Pan-Alley-Songs gehören wird: die Einbeziehung von Akkorden über tendenziell allen Tonleiterstufen durch fortgesetzte Fallbewegung im Quintenzirkel. In Verbindung mit der Reduktion der Melodik auf riff-artig wiederholte motivische Zellen erzeugt diese Harmonisierungsweise an den besten Stellen der Musik einen narkotischen Sog, der selbst in den handwerklich zweifellos weit besser gearbeiteten und rhythmisch differenzierteren Joplin-Rags seinesgleichen sucht. In Anbetracht solcher vorausweisenden Momente in Aufderheides Musik kann die These von Max Morath, sie habe möglicherweise auch deshalb aufgehört zu komponieren, weil sie nicht fähig oder willens gewesen sei, sich in aktuelleren Formen der populären Musik zu versuchen, sehr wohl bezweifelt werden.

 

Ragtime wird heute meistens gleichgesetzt mit dem klassischen Piano Rag. Die Mehrheit der Zeitgenossen dagegen dürfte darunter vor allem den Coon Song und daneben den Cakewalk verstanden haben, eine rhythmisch vergleichsweise schlichte, vorzugsweise orchestral dargebotene Tanzform.

 

Dass der »concentus alius« Musik von Aufderheide in einem Orchesterarrangement spielt, entspricht einer gängigen Praxis der Zeit: Viele Piano Rags wurden damals einer solchen Bearbeitung unterzogen, allerdings in der Regel für kleinere Besetzungen. So liegt der Dusty Rag in einer Salonorchesterfassung vor, die der namhafte, aus Dänemark eingewanderte Cakewalk-Komponist Jens Bodewalt Lampe 1909 erstellte. Auch für Blasorchester wurden zahlreiche Rags arrangiert.

Die von uns gespielte Bearbeitung kombiniert Aufderheides bekannteste Rags Dusty und The Thriller! in unmittelbarer Folge. Diese Disposition wurde dadurch nahegelegt, dass beide Stücke mit je drei Themen relativ kurz sind und in sich keinen Tonartenkontrast aufweisen. | T. F.

 

– John Edward Hasse (Hg.): Ragtime. Its History, Composers and Music. London, 1985